Leonore Ouvertüre Nr. 3, Op. 72b

Ludwig van Beethoven
1806
Dauer: 14'
Adagio - Allegro

Viele Geschichten, fiktive und reale, kennen ihn. Jenen Augenblick, nach dem nichts mehr ist wie zuvor. Jene Sekunden, die, meist durch untrügliche Anzeichen angekündigt, alles verändern. Sie sind die Katastrophe, das Ereignis, das dem Lauf der Dinge eine unumkehrbare Richtung gibt. Üblicherweise kennen und erfahren wir sie als Unglück, die «Katastrophe» – griech. einfach «Wende», «Umkehr» – ist der verheerende Schicksalsschlag. In Beethovens Werk ereignet sich dieser Moment mehrfach in umgekehrtem Sinn. Die Katastrophe ist hier eine positive, das plötzliche entscheidende Ereignis ist die Wende zum Hellen. Es tritt beispielsweise ein beim urplötzlich lichtstrahlenden Übergang vom Scherzo um Schlusssatz in der 5. Sinfonie, bei der «Findung» des Freudenthemas im Finale der Neunten – oder, geradezu exemplarisch verdichtet, im «Fidelio».

Sie klingt nicht spektakulär, nicht kunstfertig, nicht originell. Und doch wurde sie zur berühmtesten Trompetenfanfare der abendländischen Kunstmusik. Das Trompetensignal ist die «positive Katastrophe» im Drama des «Fidelio». Nicht einmal laut klingt die Trompete, denn sie kündigt erst von ferne die Rettung an. Doch diese steht vom gleichen Augenblick an nicht mehr in Frage. Eingeleitet wurde sie durch die untrüglichen Anzeichen, durch die Aufdeckung der wahren Identität Fidelios/Leonores und die Tat der «treuen Gattenliebe», die den Gemahl aus dem Dunkel irrationaler tödlicher Rachsucht zu befreien gewillt war. Doch erst mit der Ankunft des Ministers, von dem die Trompetensignale künden, wird das Drama unumkehrbar: Mit ihm tritt nicht einfach eine weitere Opernfigur auf, sondern es scheinen nun urplötzlich Vernunft, Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit auf.

Die Leonore-Ouvertüre Nr. 3 vollzieht den gleichen Vorgang in komprimierter Form. Exakt in der Mitte des Stücks erscheinen die Signale – und nachher ist nichts mehr, wie es zuvor war. Die wehmütige Düsternis von Florestans Kerkerarie, die gleich zu Beginn der Ouvertüre zitiert wurde, ist nun verschwunden; was zuvor noch nur als Hoffnung und Lichtvision aufgeschienen war, erfährt nun Bestätigung und euphorischen Jubel. Beethoven selbst hatte es offenbar als dramatisches Manko empfunden, dass die Ouvertüre das Operndrama derart plastisch vorwegnimmt. Nachdem er für eine Probeaufführung im Fürstenhaus Lichnowsky bereits eine erste und für die Uraufführung der ursprünglich dreiaktigen «Leonore» eine zweite Ouvertüre verfasst hatte, ersetzte er die dritte, die 1806 den nunmehr zweiaktigen «Fidelio» eingeleitet hatte, 1814 durch ein viertes Vorspiel, die inhaltlich weniger verbindliche und heute gebräuchliche «Fidelio-Ouvertüre». Die «Leonore 3» jedoch machte sich bald schon selbständig. Gustav Mahler fügte sie, gleichsam als instrumentale Nacherzählung der Geschehnisse, kurz vor dem Schlussbild in die Oper ein, was lange Zeit zur verbreiteten Praxis wurde. Im Übrigen hat sie den Weg in den Konzertsaal gefunden: als vom konkreten Operndrama losgelöste instrumentale Verkörperung jener Hoffnung, die durch den Einbruch aufklärerischen Lichts zur unumkehrbaren Realität geworden ist.

©Michael Eidenbenz

 



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